Schottland: Tattie Bogal Festival

Die Vorbereitungen für das diesjährige Tattie-Bogal-Festival laufen auf Hochtouren.

Meine Empfehlung: Hinfahren und Staunen!

Seht und lest selbst:


Regentropfen hämmerten an die Scheiben unserer fahrbaren Heimat. Die Flucht vor den „Midges“ führte uns auf direktem Weg auf die, über die Landesgrenzen hinaus bekannte, Isle of Skye. Die Nacht hüllte uns bereits in ihren schwarzen Mantel, weswegen wir neben der für Schottland recht belebten Straße anhielten und unser Nachtlager bezogen. Verließ man das Auto nochmal, stellte sich sogleich ein beklemmendes Gefühl ein. Die undurchdringliche Schwärze des sternenlosen Himmels, das Rauschen des Windes in unsichtbaren Baumkronen, und die Gewissheit, dass da irgendetwas im Dunkeln wachte, schlaflos..wach...und hungrig,  tat ihr übriges, um unsere erste Nacht auf der Insel gemütlich und schaurig zu gestallten. 


Der neue Morgen brachte Wolken, Nieselregen, aber trotzdem so viel Licht, dass man die Gegend überblicken konnte. Mehrere Meter entfernt entdeckten wir tatsächlich etwas, das uns beobachtete. Ein schmutzig weißer Kopf ragte hinter einem Grashügel hervor. Beim Näher kommen zeigten sich gewaltige Hörner, breite, vor Dreck stehende Schultern, um die ein Schafsfell geworfen war. Eine an eine schottische Interpretation Beelzebubs erinnernde Figur stand da mitten im Nirgendwo und blickte grimmig vor sich hin.


Tattie Bogals

Nach wenigen hundert Metern zog ein roter Farbklecks in der Landschaft unsere Aufmerksamkeit auf sich. Eine weitere Figur, diesmal an eine Hexe mit roten Haaren erinnernd, blickte, den Hörer in der Hand, aus einer Telefonzelle direkt in die Autos der Vorüberfahrenden. Mit mulmigem Gefühl bogen wir von der Hauptstraße ab. Wenige hundert Meter weiter wartete die nächste Gestalt auf uns. Die ganze Straße schien gesäumt von vor Kreativität und Erfindungsreichtum strotzenden Wesen aus Stroh, Stoff, Farbe und allem, was dazugehörte, um sie möglichst lebensecht wirken zu lassen. In der nächsten kleinen Ortschaft fragten wir einen älteren Mann, der gerade in seinem Garten arbeitete, ob wir sein „WERK“ fotografieren dürfen. Er bejahte, fragte uns, woher wir kämen. Es entwickelte sich ein Gespräch, in dem wir folgendes erfuhren: Die Wesen heißen „Tattie Bogals“, was sich aus dem Wort Kartoffel und dem Angstmachen von Geistern zusammensetzt und als Vogelscheuche übersetzt werden kann. Sie werden im Zuge eines jährlich statt findenden Festivals, von den Bewohnern der Minginish-Region Schottlands gebastelt, um sie Besuchern, Anwohnern, Freunden, Nachbarn und Konkurrenten zu präsentieren. Jede der aus unterschiedlichen Materialien gebauten Figuren hat einen Namen und eine Nummer für die Betrachter im Internet ihre Stimme abgeben können, um einen Sieger zu küren. 


Seine „Tattie Bogal“ zeigte einen im Vorgarten sitzenden Angler. Die lebensechte Darstellung  war verblüffend. Die Maske, die Norman Morrison nutzte, um das Gesicht noch realistischer zu machen, strahlt Ruhe und einen verschmitzten Charme aus, der an einen Spitzbuben im Jünglingsalter erinnert. Auf dem kleinen Tisch neben dem Angler steht ein halbvolles Glas mit golden brauner Flüssigkeit. Natürlich Whiskey - typisch für die Region, die unter anderem Besucher mit Führungen und Verkostungen in verschieden Destillerien lockt. Meine Augen folgen der Leine der Angelrute. Statt einem Fisch hat sich der weißstrahlende Büstenhalter einer Frau darin verfangen. George bemerkt mein Lächeln und entgegnet: „das ist es doch, warum man im Leben angelt, man trinkt, wartet, genießt die Ruhe, und hin und wieder beißt ein richtig dicker Fisch an. Ein Blick in seine strahlenden Augen verrät, dass das Glas Whiskey bei George halb voll, und nicht halb leer ist. Bevor wir
weiterziehen verwies uns George an Big John, der das  „Tattie Bogal-Festival“ zum ersten Mal iniziiert hat und ganz am Ende der Straße, gesäumt von weiteren Figuren, auf einer großen, handgeschnitzten Bank säße.
Entdeckergeist und Neugier führten uns weiter auf der Straße Richtung „Big John“. Die wunderschöne Landschaft Schottlands mit einem silbernen, wolkenverissenen Himmel, durch den nur ab und zu ein mutiger Fetzen blau schimmerte, die fjordähnlichen Meereseinbuchtungen, die satt grün leuchtenden Hügel und Berge, das entfernte Blöken eines Schafes wurden in ihrer Schönheit nur noch durch die bunt leuchtenden Vogelscheuchen vor eben diesem Ambiente übertroffen. 


Vogelscheuchen säumen die Straßen

So begegneten wir dem Rennradfahrer Chris Hoy, der für England Gold holen sollte, einem Midgejäger, mit der Hautpflegelotion Skin-so-soft in der Jackentasche, die größte Beliebtheit erfährt, da das schottische Militär darauf zurück greift, wenn die Plage der winzigen kleinen Mücken selbst für harte Soldaten unerträglich wird, und einem überdimensional großen Vogel, der eine Vogelscheuche davon schleppte, während die Sprechblase dem lesenden Betrachter verkündete: „Ha, wer hat nun Angst?!“ 
Eine auf einem Besen sitzende Hexe bewegte sich im Wind, als ob sie tatsächlich fliege, da der Erbauer sie geschickt mit unsichtbaren Drähten in der Luft befestigt hatte. Harry Potter zierte mit seiner Z-förmigen Narbe, seiner Hornbrille, und seinem Zauberstab die Straße zu dem großen Unbekannten, zu „Big John“. Da waren John Lennon und Yoko Ono, gerade im Kingsize Doppelbett, die für Liebe, satt Krieg warben, da war die komplette Band von Kiss versammelt, da gesellten sich Feuerwehrmänner, Polizisten, Superhelden, Darth Vader, der Pinke Panther, Schornsteinfeger, Drachenflieger, demonstrierende Kürbisköpfe,  Strandschönheiten, Bären, Bauern  und Landstreicher, Monster, Fischer und Geister, und nicht zuletzt gar die Queen, majestätisch erhoben, mit einer Schrottflinte in der Hand.
 


Big John erschaffte die Urscheuche der Isle of Skye

Schließlich erreichten wir „Big John“, wissbegierig darauf mehr zu erfahren. Als er meine Hand zur Begrüßung schüttelte, fühlte ich mich klein und verloren. Sein Beiname „der Große“ wunderte mich nicht. Seine blauen Augen blicken freundlich und etwas verträumt, trotzdem blitzt da eine kompromisslose Bereitschaft auf, eine Sache zu verteidigen. „Big John“ erzählt uns von seinen jungen Jahren als Clubbesitzer und Türsteher in Manchester. Er wäre hier geboren, und nachdem er sein Glück in der Stadt versucht hatte, woran das scheiterte verschwieg er gekonnt, sei er wieder zu seinen Wurzeln zurück gekehrt. Sein großer weißer Hund, der eher an einen Eisbären, als an einen Köter erinnerte, wich ihm die ganze Zeit nicht von der Seite und beschnüffelte uns misstrauisch, aber freundlich. John erzählt, dass er der inoffizielle Initiator des „Tattie Bogal-Festivals“ wäre, da er vor etlichen Jahren die „Urscheuche“ kreierte. „Wollt ihr sie sehen?“ Natürlich wollten wir das, und so führte uns John in den Garten des kleinen Hauses am Berg mit Blick auf Meer, Himmel und Hügel. Hier standen wir nun und folgten Johns Finger der gen Horizont zeigte, und wir sahen: erstmal wenig. Ein Holzkreuz, wirkte einsam und verglichen mit den bisher betrachteten farbenfrohen Gesellen voll Charme und Witz wie eine blasse Erinnerung an eine vergangene Zeit. Als „der Große“ unsere Gesichter sah, die offensichtlich verrieten, dass wir etwas enttäuscht waren, erzählte er uns, dass die „Urscheuche“ nur noch ein Andenken sei. Damals erwartete John zum Ende des Sommers Besuch aus der Stadt. Den immerwährenden Konkurrenzkampf zwischen Städter und Dörfler versteht, wer als Städter auf einer Hütte in den  bayrischen Alpen einkehrt, ebenso, wie, wer als Dörfler in Berlin Friedrichshain nach der Happy Hour fragt. Erwähnten Besuch wollte John nun etwas einschüchtern und gleichzeitig etwas Besonderes bieten. Er errichtete in seinem Garten eine Vogelscheuche, übergoss sie mit Benzin und legte eine Spur bis auf seine Veranda, von der er sein Kunstwerk in Flammen aufgehen sehen wollte. Leider schlug das Experiment fehl, das Benzin war offensichtlich im Boden versickert, die „Urscheuche“ überlebte. Als John am nächsten Tag einen neuen Versuch unternehmen wollte, meinte er, er hätte Mitleid gehabt mit dieser großen, komisch drein schauenden, ihn seltsamerweise an ihn selbst erinnernden Scheuche. Deshalb gewährte er ihr den Platz in seinem Garten.  Schottisches Wetter gab ihr über die Jahre den Rest. Nichtsdestotrotz sei diese „Urscheuche“ Anlass gewesen, dass Nachbarn kamen und fragten, was es damit auf sich habe.


Ein Wettbewerb, bei dem es nicht ums Gewinnen geht

Schließlich entwickelte sich durch das zusätzliche Engagements von Lesley Hellon das „Tattie Bogal-Festival“, ein kommunaler Wettbewerb, bei dem es gar nicht ums Gewinnen geht, sondern darum, gemeinsam etwas zu schaffen, Jung und Alt zusammen zu bringen. Geht die Schule zu Ende und Schüler werden in die Ferien geschickt, bieten Bewohner der Region Workshop zum Bau der Vogelscheuchen  an. Eltern gestalten mit ihren Kindern, Ehefrauen mit ihren Ehemännern, Nachbarn mopsen Ideen oder geben Tipps, Touristen halten und fotografieren die seltsamen und nur vorrübergehenden Mitbewohner des kleinen, großen Stückes Land am Ende der Welt. Daneben fanden diverse Veranstaltungen statt, um sich selbst zu belohnen, Preise zu verleihen und den Erfolg zu feiern.
Mittlerweile gäbe es 131 Mitbewerber auf dem ca. 20 km langen „Tattie Bogal-Trail“, dieses Jahr gewann die Queen, dicht gefolgt von „Make Love not War“ und dem Pink Panther. Zum Abschied schenkte uns „Big John“ eine kleine Vogelscheuche, die nun in unserem Garten in Berlin steht und sich dem Wetter erwehrt. Wieder schüttelten seine riesenhaften Hände die unseren, und wieder fühlte ich mich klein, doch auf seltsame Art und Weise auch gut aufgehoben unter den Fittichen vom großen John.



Ein Gespräch mit den Siegern über den Sieger der Herzen

Nachdem wir den nächsten Tag an der frischen, schottischen Luft verbrachten führte uns unser Weg am frühen Abend erneut zu der Figur „Balmoral Shoot“, der Queen, der Gewinnerin. Am nahegelegensten Haus fragten wir nach dem Erbauer des Kunstwerks und tatsächlich hatten wir Glück. Norma Campbell bat uns herein, wir nahmen auf dem Sofa Platz, hinter uns spiegelte sich der silbergraue Himmel im ständigen auf und ab des Meeres.  Stolz erzählte uns Norma wie sie drei Tage zusammen mit ihrem Mann Murrey in der Scheune saß und bastelte. Die Queen liebe Schottland und komme jährlich zur Fasanenjagd zur Burg von Balmoral. In traditionellem Gewand wollte sie die Queen mit Schrotflinte in der Hand darstellen. So dass diese, sollte sie sich in diesen Teil des Landes verirren und an ihrem Ebenbild vorüberfahren, anhalten und die Hand von Norma schütteln würde, alberte Familie Campbell. Das Gewand erstand sie auf Ebay, sogar zwei davon, da das erste etwas zu weit gewesen wäre, um eine gut gelungene Queen abzugeben. Das Schießeisen habe ihr Mann Murrey gezimmert und lackiert. Auch er saß mittlerweile am Tisch und beteuerte den Spaß, den der kreative Prozess ihm gebracht hätte und die präzise Arbeit seiner Frau. Der Korb war gefüllt mit einer guten Flasche schottischen Whiskeys, einem toten Gummifasan, zwei Whiskeygläsern sowie einer Dose mit Baked Beans. Shannon war entzückt darüber, wie viel Aufmerksamkeit ihr zuteil wurde, nachdem sie bei einer offiziellen Feier den Pokal überreicht bekommen hatte. Verschiedene Zeitungen hätten darüber berichtet und man merkte, dass sich die beiden in die Jahre gekommenen Schotten, die ihr ganzes Leben auf diesem Teil der Erde verbracht hatten, freuten, dass sogar Menschen aus Deutschland von ihrem Kunstwerk fasziniert waren.  Sie lobten das Festival in den höchsten Worten, da es die Gemeinschaft zusammenschweiße, da Witz und Einfallsreichtum wichtiger waren, als das Gewinnen. 


Norma und ihr Mann antworteten auf die Frage, wer ihrer Meinung nach hätte gewinnen müssen wie aus einem Mund: „Jeremy Seal!“ Er hätte den Halbmarathonläufer kurz vor dem Ende des Trials errichtet. Ich erinnerte mich wage an diese Gestalt. Eine Figur, die geteilt war: Beine ohne Oberkörper, ein Oberkörper ohne Beine..nun machte das Sinn, ein HalbMarathon-Läufer. Als ich entgegnete, dass das tatsächlich eine sehr schöne Idee sei, blickten mich die beiden bedeutend an. Dann Sprach Murrey: „Pete hatte vor eineinhalb Jahren einen Herzinfarkt und saß im Rollstuhl, weil er nicht mehr richtig laufen und sprechen konnte. Unzählige Stunden Physiotherapie und Logopädie, sein eiserner Wille und die felsengleiche Unterstützung seiner Frau haben ihn im Kampf unterstützt. Pete hat angefangen regelmäßig zu laufen. Mittlerweile heimst er Preise bei verschiedenen Halbmarathonwettbewerben ein und trägt das Trikot der Herzinfarkthilfe Schottlands. Sie hatten mich überzeugt. Auch der Halbmarathonläufer war Sieger. 


Wir nehmen Reißaus vor den schaurigen schönen Gestalten

Auf die Frage, ob sie jemals Angst vor den Vogelscheuchen hätten, wenn sich die Sonne hinter den Wolken verkriecht, und die Nacht ihre dunklen Finger ausstreckt, antworteten sie, dass sie sich darüber noch nie Gedanken gemacht hätten. Es seien schließlich nur „Tattie Bogals“, dass aber Kinder des Öfteren ängstlich nach Hause rannten, bevor die Nacht einbrach, da diese von der Harmlosigkeit der Wesen nicht so überzeugt schienen. 
Wir erlebten mit aufkommender Dunkelheit eine Veränderung im Wesen der Scheuchen. Das unvollkommene, lumpenhafte oder auch menschliche schien geschluckt zu werden und eine monströse Aura begann die „Scarecrows“ zu umgeben. Wir fuhren jeden Abend aus diesem Teil der Insel, nur um nicht in unmittelbarer Nähe zu den schaurigen Gestalten schlafen zu müssen.



Weitere Informationen auf www.tattiebogal.co.uk

Texte und Bilder in Kooperation mit Sebastian Lang: www.behance.net/bastarte


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Kommentare: 1
  • #1

    basel (Freitag, 10 Juli 2015 20:34)

    Schwäng!!!